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Geschichte des Plautdietschen

Das Plautdietsche ist eine niederdeutsche Varietät, die früher im Osten des niederdeutschen Spektrums im Königlichen Preußen, also in Polen, gesprochen wurde. Zur ersten Orientierung dienen die Flüsse Weichsel und Nogat sowie die Städte Danzig, Elbing und die Marienburg. Als Polen Ende des 18. Jahrhunderts aufgeteilt wurde, kam dieser Teil an Preußen.

Hier wohnten auch Mennoniten, eine während der Reformation entstandene Freikirche, die Erwachsene tauft und sich vor allem auf die Bergpredigt stützt und daher Gewalt ablehnt. Ihr Pazifismus vertrug sich nicht mit dem preußischen Militarismus und daher begann man über Auswanderung nachzudenken.

In Preußen hießen die Mennoniten schlicht die Holländer, weil sie ursprünglich aus den Niederlanden, vor allem aus Flandern und Friesland, eingewandert waren und noch bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts Niederländisch als Kirchensprache praktizierten. Doch in den Familien sprach man inzwischen nicht mehr Friesisch oder Flämisch, sondern war zum Ostniederdeutschen übergegangen.

Die Bezeichnung Preußen geht auf einen baltischen Stamm zurück, deren Sprache hier noch bis zum 17. Jahrhundert gesprochen wurde, die inzwischen aber ausgestorben ist. Ferner lebten hier Kaschuben, ein slawischer Stamm. Diese drei indogermanischen Sprachfamilien – Baltisch, Slawisch und Germanisch – beeinflussten sich gegenseitig und bildeten in Preußen einen Sprachbund. Sie trafen beispielsweise auf dem Viehmarkt aufeinander und entwickelten eine gemeinsame Lexik. Daher sind einige Viehbezeichnungen im Plautdietschen baltische Lehnwörter (Kujjel für Eber, Kunter für Wallach etc.), andere slawische (Kos für Ziege, Kobbel für Stute etc.), und in den anderen Sprachen wurden zum Teil dieselben Lehnwörter gebraucht. Es kam sogar zu Hybridbildungen: Im Plautdietschen wie im Kaschubischen heißt der Ziegenbock Kosebock. Jede Sprache steuert das halbe Wort bei, beide verwenden das ganze.

Katharina II. war zu der Zeit deutschstämmige Zarin in Russland. Sie hatte im Krieg gegen das osmanische Reich die nördliche Schwarzmeerküste erobert und wollte diese landwirtschaftlich erschließen. Die russischen Bauern waren zu der Zeit noch Leibeigene und daher beschloss sie, in ihrem Heimatland nach Bauern zu suchen, die bereit wären, sich nördlich des Schwarzen Meeres anzusiedeln. Sie versprach ihnen viele Privilegien, unter anderem auch die Befreiung von Militärdiensten – auf ewige Zeiten.

Diese Zusicherungen kamen den Mennoniten sehr gelegen und so folgten viele der Einladung Katharinas. Es entstanden vier Mutterkolonien, die wichtigsten waren Chortitza am Dnepr und vor allem die größte Kolonie: Molotschna am gleichnamigen Flüsschen. Man war gerade erst vom Niederländischen zum Hochdeutschen als Sprache der Kirche und der Schule übergegangen, doch ansonsten sprach man Plautdietsch.

Von russischen Köchinnen übernahm man die Vielfalt der slawischen Küche, die seitdem fester Bestandteil der plautdietschen Esskultur ist. Man übernahm auch einige Lehnwörter für Gegenstände, die man vorher nicht kannte, beispielsweise die Bezeichnung Arbus für die Wassermelone. Darüber hinaus lernte man jedoch kaum Russisch, man lebte in einer Parallelgesellschaft. Heute liegen diese Siedlungsgebiete in der Ukraine, doch damals nannte man diese Gegend Neurussland.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts führte Alexander II. im Zuge der Modernisierung Russlands einige Neuerungen ein: Er befreite die russischen Bauern und modernisierte die Armee. Nun sollten auch die deutschen Siedler in der Armee dienen, eine weitere Bevorzugung dieser Parallelgesellschaft war innenpolitisch nicht durchsetzbar. Die Mennoniten erinnerten sich daran, dass sie in solchen Situationen immer ausgewandert waren, und so kam es auch jetzt zur massenhaften Auswanderung nach Nordamerika. Als Alexander II. merkte, dass er sich nicht durchsetzen konnte, verhandelte er mit denjenigen, die noch dageblieben waren, und man einigte sich auf etwas, das es in der Geschichte der Menschheit noch nie gegeben hatte: einen zivilen Ersatzdienst für Kriegsdienstverweigerer. Es entstanden mehrere sogenannte Forsteien, in denen die mennonitischen jungen Männer in Kasernen lebten, jedoch nicht schießen lernten, sondern im Wald arbeiteten.

In diesen Forsteien wurde ausschließlich Plautdietsch gesprochen und spätestens in dieser Zeit wandelte sich die Religionsgemeinschaft der (osteuropäischen) Mennoniten zu einer Kulturgemeinschaft mit einem eigenen ethnischen Bewusstsein. Fester Bestandteil dieser Identität ist das Plautdietsche.

In Nordamerika spitzte sich für die Mennoniten die Lage während des Ersten Weltkriegs zu. Sie hielten an ihren deutschen Schulen und Gottesdiensten fest und wollten als Pazifisten nicht am Krieg teilnehmen, zumal sie sich mit dem Kriegsgegner Deutschland sprachlich und kulturell verbunden fühlten. So kam es erneut zur Auswanderung, diesmal nach Lateinamerika: nach Mexiko und Paraguay, die bereit waren, ihnen die verlangten Privilegien, vor allem den Pazifismus, zuzusichern.

In den 1920er und 1930er Jahren flohen viele Mennoniten vor dem stalinistischen Terror nach Nord- und Südamerika, wobei ihnen vor allem Hindenburg half: Im 1930 gegründeten Filadelfia im paraguayischen Chaco trägt die wichtigste Straße bis heute seinen Namen. Auch diese Emigrationswelle stieß in Kanada auf Misstrauen, denn nun verlangte Kanada, dass man ausgerechnet an der Seite Stalins, vor dem man ja geflohen war, gegen Deutschland, dem man für die Hilfe bei der Emigration dankbar war und mit dem man sich immer noch sprachlich und kulturell verbunden fühlte, in den Zweiten Weltkrieg ziehen sollte.

Bedingt durch diese weltpolitischen Ereignisse und den Pazifismus der Mennoniten leben heute die meisten Plautdietsch-Sprecher*innen in Lateinamerika, meistens relativ isoliert von der Mehrheitsbevölkerung, viele einsprachig. In der Regel wandern die konservativeren Mennoniten als erste aus und werden noch konservativer. Diejenigen, die (in Russland, in Kanada etc.) bleiben, sind zumindest in gewissen Grenzen zu Konzessionen bereit und werden progressiver. So erklärt es sich, dass das Spektrum der Lebensentwürfe der Mennoniten so breit gefächert ist, wie wohl in keiner anderen Gemeinschaft.

Vor allem in Mexiko und Bolivien sammeln sich die konservativsten Altkolonier, die Autos und elektrischen Strom ablehnen, sich mit Pferdefuhrwerken fortbewegen und abends bei Kerosinlampen in ihren schlichten Behausungen beisammensitzen: ohne Strom, ohne Internet, ohne soziale Netzwerke, ohne Massenmedien. In diesen Gemeinschaften ist Plautdietsch keine bedrohte Sprache, sondern die Sprecher*innenzahl wächst exponentiell. Da auch Geburtenkontrolle abgelehnt wird, haben die Familien viele Kinder und dadurch verdoppelt sich die Sprecher*innenzahl alle 20 Jahre: In Mexiko und Bolivien sind es jeweils etwa 100.000, weltweit etwa eine halbe Million.

Halten diese Tendenzen an, dass die Zahl der Niederdeutsch-Sprecher*innen in Deutschland stagniert oder gar abnimmt, die der lateinamerikanischen Plautdietsch-Sprecher*innen exponentiell wächst, könnte es dazu kommen, dass nicht nur die meisten Plautdietsch-Sprecher*innen, sondern die meisten Niederdeutsch-Sprecher*innen überhaupt irgendwann in Lateinamerika wohnen werden.

Die Nachfahren derjenigen, die damals in Russland blieben, sind seit den 1970er Jahren fast alle nach Deutschland ausgewandert. Da diejenigen, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus Westpreußen geflüchtet waren, inzwischen aufgehört haben, Plautdietsch zu sprechen, wird diese Varietät nur noch von den Nachfahren derjenigen gesprochen, die im 18. und 19. Jahrhundert nach Neurussland ausgewandert waren.

In Deutschland jedoch ist es nicht mehr in allen Familien selbstverständlich, dass mit den Kindern Plautdietsch gesprochen wird. Gerade in homogenen Neubaugebieten kommt es zwar immer noch vor, dass Kinder auf der Straße miteinander Plautdietsch sprechen, doch ohne gezielte Sprachpolitik wird es wohl so kommen wie in Kanada, wo nach dem zweiten Weltkrieg in den Familien, die nicht nach Lateinamerika ausgewandert waren, fast nur noch Englisch gesprochen wurde. Heute gibt es auch wieder Plautdietsche in Nordamerika, jedoch sind es Rückwanderer aus Lateinamerika. Diese kommen jedoch nicht bis Europa. Und aus Russland und den anderen ehemaligen Sowjetrepubliken, wo das Plautdietsche ebenfalls nicht gefährdet war, sind inzwischen fast alle nach Deutschland emigriert, von da ist also auch keine Hilfe zu erwarten.

Wir haben in Deutschland also die gleiche Probleme wie die anderen Niederdeutschen und müssen die gleichen Maßnahmen ergreifen: Wir müssen Plautdietsch in den Schulen, zumindest in den Städten, wo viele Plautdietsche wohnen, als Schulfach einführen, wir müssen Eltern ermutigen, mit ihren Kindern Plautdietsch zu sprechen etc.

Aus diesem Grund haben wir uns im Bundesrat für Niederdeutsch zusammengeschlossen, um uns auf Grundlage der europäischen Sprachencharta zusammen mit den Delegierten aus den norddeutschen Bundesländern für das Niederdeutsche im Allgemeinen und das Plautdietsche im Speziellen einzusetzen, damit Plautdietsch nicht nur in Lateinamerika, sondern auch in Deutschland eine Zukunft hat.

 

 

Literaturempfehlungen:

Heinrich Siemens: Plautdietsch – Grammatik, Geschichte, Perspektiven (Bonn 2012), ISBN: 9783981197853.

Jack Thiessen: Plautdietsches Wörterbuch. (5. Auflage) (Bonn 2019), ISBN: 9783944985077.

Ekaterina Liebert: Plautdietsch miene Muttasproak: Leseheft fe Schooltjinja (Bonn 2020) (Dieses Heft wird in Sibirien im Plautdietsch-Unterricht in der Schule eingesetzt.) ISBN: 9783944985084.

Heft Artikel von: Siemens, Heinrich

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